Dienstag, 5. Juni 2012

Dormez-Vous?


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Sie sitzt da, die Knie angezogen, ihre Arme fest darum geschlungen. Zitternd atmet sie aus, presst ihren Körper eng gegen die Schrankwand. Ihre Mutter hört sie schreien, schmerzerfüllt, wimmernd. Sie beginnt zu weinen, schaukelt sanft hin und her. Leise fängt sie an zu singen, dass einzige Lied welches sie kann. Ihre Lippen hauchen bebend die Worte, immer wieder.

„Frère Jacques, Frère Jacques,
Dormez-vous, dormez-vous ?
Sonnez les matines, sonnez les Matines,
Ding, Dang, Dong, Ding, Dang, Dong“

Warum tut er das? Warum verletzt er Mama?

„Frère Jacques, Frère Jacques,
Dormez-vous, dormez-vous ?
Sonnez les matines, sonnez les Matines,
Ding, Dang, Dong, Ding, Dang, Dong“

Sind wir selbst schuld? Hat Papa uns nicht mehr lieb?

„Frère Jacques, Frère Jacques,
Dormez-vous, dormez-vous ?
Sonnez les matines, sonnez les Matines,
Ding, Dang, Dong, Ding, Dang, Dong“

Waren wir  so böse?
Plötzlich herrscht stillen, nur der ängstliche Gesang ihrer kindlichen Stimme ist zu hören. 
Ist es vorbei? Hat er Mama genug bestraft?
Sie singt weiter. Ein schmaler Strahl fällt durch den Schrank, als er das Licht  anschaltet. Sie hört ihn näher kommen. Ihr Herz schlägt unerbittlich gegen ihre Brust.

„Frère Jacques, Frère Jacques,
Dormez-vous, dormez-vous ?
Sonnez les matines, sonnez les Matines,
Ding, Dang, Dong, Ding, Dang, Dong“

Er öffnet die Tür, schaut auf sie hinab. In seinem Gesicht sind Spuren von Blut, sein Hemd ist rot. Schweigend geht er in die Hocke. Sie kauert sich mehr zusammen, traut sich nicht ihn an zu sehen. Seine Hand hebt ihr Kinn, sie ist kalt. Ängstlich kneift sie die Augen zusammen, als sich die eisigen Finger um ihre Kehle legen.
Was tut er?
Ihre Lippen formen weiter die Worte, von der Angst begleitet.

„Frère Jacques, Frère Jacques,
Dormez-vous, dormez-vous ?
Sonnez les matines, sonnez les Matines,
Ding, Dang, Dong, Ding, Dang, Dong“

Er drückt zu, erst sanft, dann immer fester.  Sie bekommt kaum noch Luft, kann nur noch flüstern. Über ihre Wange laufen immer noch Tränen, hinterlassen salzige Spuren auf ihrer Haut.
Vielleicht muss es so sein. Vielleicht ist es normal dass Väter ihre Familie verletzen?
Sein Griff schließt sich fester, sie verstummt und versinkt in vollkommener Dunkelheit. Es ist schön, beinahe so als würde sie in den Armen ihrer Mutter liegen.
Mama, bist du da? Papa hat dir wehgetan, nicht? Mir tut er auch weh. Gerade. Aber es ist okay, ich habe ihn trotzdem lieb. Warte auf mich, Mama, ich komme zu dir. Dann gehen  wir Spazieren im Park, so wie früher, ja? Und dann suchen wir die Steine, mit den schönen Mustern. Weißt du noch? Alles wird gut, so wie du es immer versprochen hast. 
Regungslos bleibt sie zurück, kein Herzschlag mehr, kein Atemzug. Man hört den Gesang weiter, jedoch kommt er nicht aus ihrer Kehle. Sie wird schweigen, für immer. Es ist die Stimme eines Mannes, eines verzweifelten Vaters. Begleitet von einem Schuss. Schließlich ist es wieder still in der Nacht. Keine Schreie, kein Weinen, kein Knall. Nur in der Luft hängen noch die Worte des Liedes.

Frère Jacques, Frère Jacques,
Dormez-vous, dormez-vous?
Sonnez les matines, sonnez les Matines,
Ding, Dang, Dong, Ding, Dang, Dong.



An dieser Stelle noch ein Dankeschön, an meine wundervollen, 26, Blogstalker. Ihr wisst vermutlich gar nicht wie glücklich ihr mich macht. 


8 Kommentare:

  1. total gut geschrieben (: die inneren Gedanken (ka nennt man das so?), also das kursiv geschriebene gefällt mir wirklich gut und das macht sich auch gut im Gesamttext.
    mich hat der Text total mitgerissen ♥

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  2. Ich mag ihn, und vor allem dir letzten Worte, die letzten Sätze. Danke,... Danke Emi <3

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    1. Danke dir. Wofür? Ich will kein Dankeschön, Herzchen. Das ist selbstverständlich.

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  3. oh gott,
    oh gott,
    ich habe mich in deinen blog verliebt.
    er ist wundervoll,
    zweifel daran bitte nicht.

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  4. Tränen in den Augen. Manchmal frage ich mich, ob wir tatsächlich nicht alle schlafen.
    xxx

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    1. Danke dir. Und du hast Recht, unsere Gesellschaft in eine stumpfsinnige.

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Dankeschoen ♥